Interview mit Samantha Schneider & Franjo Božić – Potenziale von Digitalisierung in der Langzeitpflege

Frau Samantha Schneider ist examinierte Altenpflegerin und arbeitet bei einer ambulanten Pflegeeinrichtung im ländlichen Raum. Herr Franjo Božić ist ebenfalls examinierter Altenpfleger und arbeitet in einer geschützten stationären Pflegeeinrichtung im urbanen Raum. Beide sind zeitgleich Studierende an der Hochschule Esslingen im Studiengang Pflegemanagement mit Schwerpunkt Pflegewissenschaft. Im Rahmen ihrer Ausbildung und Berufserfahrung in der Pflege konnten sie Erfahrungen in verschiedenen Pflegeeinrichtungen sammeln. Im Gespräch mit PflegeDigital@BW erläuterten die beiden jungen Fachkräfte, wo Sie die Potenziale von Digitalisierung im Alltag der Pflegepraxis sehen.

 

PflegeDigital@BW:
Frau Schneider, Herr Božić, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für diesen Austausch nehmen. Zum Einstieg würde uns interessieren, wie denn ein typischer Ablauf eines Arbeitstages bei Ihnen aussieht?

Samantha Schneider:

Samantha Schneider (links) und Franjo Božić (rechts)

Der Tag startet morgens im Büro des ambulanten Pflegedienstes. Zunächst sind einige Vorbereitungen nötig, wie beispielsweise das Übergabebuch lesen und die Tour vorbereiten (Schlüssel, Medikamente und Verbrauchsmaterialien organisieren).

Im Anschluss nehme ich einen Dienstwagen und beginne, die ersten Klient*innen anzufahren und zu versorgen. Neben der Leistungsdokumentation sind zwischendurch auch oft noch diverse Abstimmungen notwendig, wie telefonische Anfragen von Klient*innen, Termine mit Ärzt*innen und Rücksprachen mit Kolleg*innen. Der Dienst endet im Büro, nachdem ich die Tour nachbereitet und wichtige Vorkommnisse vermerkt habe.

Franjo Božić:

Der Ablauf in einer geschützten stationären Einrichtung, unterscheidet sich in einigen Punkten. Auch hier gibt es eine Reihenfolge, wie die Bewohner*innen versorgt werden, wir richten uns dabei nach den individuellen Bedürfnissen hinsichtlich des Tagesrhythmus. Bei der Pflege nutze ich einen mobilen Pflegewagen, den ich entsprechend vorbereite und auch Lagerbestände im Blick behalten muss. Im Zusammenhang mit der Spezialisierung der Einrichtung leiden die Bewohner*innen an psychiatrischen Krankheitsbildern, die teilweise auch mit herausforderndem Verhalten einhergehen können. Hier ist eine besondere Aufmerksamkeit erforderlich, um in Gefahrensituationen schnell reagieren zu können. Einen wichtigen Stellenwert haben auch die Tagesstruktur und soziale Betreuung der Bewohner*innen.

Das klingt nach einer Menge Aufgaben, die gleichzeitig erledigt werden müssen. An welchen Stellen kann Digitalisierung Ihrer Meinung nach hier unterstützen?

Samantha Schneider:

Alles, was uns Pflegekräfte im oft hektischen Pflegealltag entlastet, kann eine große Unterstützung sein. Wichtig ist jedoch, dass Digitalisierung an den richtigen Stellen eingesetzt wird. Aus meiner Sicht gibt es aber einige sinnvolle Anwendungsfelder der Digitalisierung in der ambulanten Pflege.

Die Kommunikation mit Patient*innen und An- und Zugehörigen, sowie die Abstimmung mit Ärzt*innen und Apotheken während der Tour ist momentan sehr zeitaufwendig. Hier sollten verstärkt digitale Kommunikationskanäle genutzt werden, um die Zeit, die für Anrufbeantworter, Rückrufe oder in Telefonwarteschleifen aufgewendet wird, für die direkte Pflege einsetzen zu können. Auch die Bestellung von Verordnungen oder Rezepten bei Ärzt*innen, welche momentan noch häufig über das Faxgerät oder ebenfalls per Telefon ablaufen, könnte mittels digitaler Anwendungen erleichtert werden.

Darüber hinaus ist für eine gute pflegerische Versorgung der Zugang zu relevanten Informationen elementar. Im Bereich der Dokumentation sehe ich ein Potenzial für die Nutzung digitaler Plattformen. Oftmals ist das schriftliche Übergabebuch und auch eine schriftliche Dokumentation bei den Patient*innen noch der Standard. Auch hier könnten digitale Dokumentationsplattformen die Arbeit erleichtern, Zeit einsparen und Doppeldokumentationen vermeiden. Außerdem erleichtern sie den schnelleren und einfacheren Zugriff aller Beteiligten auf relevante Informationen.

Franjo Božić:

Im Arbeitsumfeld der stationären Pflege konnten bereits einige sinnvolle Digitalisierungsmaßnahmen umgesetzt werden.

Die Zugangsverwaltung in der Einrichtung ist größtenteils digital mit PIN-Eingaben geregelt, sodass im Alltag nicht ständig ein großer Schlüsselbund mitgeführt werden muss.

Sensormatten, die die Aktivität in den Zimmern von z. B. sturzgefährdeten Bewohner*innen erkennen können, helfen mir dabei, einzuschätzen, wo meine Unterstützung in dem Moment am dringendsten gebraucht wird.

Im Falle von medizinischen Notfällen können vom Rettungsdienst und Krankenhaus versorgungsrelevante Daten über eine Plattform unseres Primärsoftwareanbieters digital abgerufen werden. So ist der papiergebundene Übergabezettel, der manchmal auf dem Weg in die Notaufnahme verloren geht, überflüssig. Das Krankenhaus wiederum kann Informationen zum Standort und Zustand der Patient*innen übermitteln. Für eine direkte medizinische Versorgung in der Pflegeeinrichtung besteht die Möglichkeit, eine Televisite über ein Tablet durchzuführen.

Für die Pflegedokumentation steht in der Primärsoftware von Senso bereits eine Schnittstelle für die Sprachdokumentation von Voize zur Verfügung. Grundsätzlich muss meiner Meinung nach auch über ethische Fragen bei der Einführung neuer digitaler Techniken nachgedacht werden, insbesondere wenn sich dadurch bspw. indirekt neue Möglichkeiten zur Überwachung der Mitarbeiter*innen ergeben oder diese in die Privatsphäre von Bewohner*innen eingreifen.

Ein besonderer Fokus in der Einrichtung liegt auch auf der sozialen Teilhabe der Bewohner*innen. Hier kommen bei der Betreuung bereits digitale Techniken, wie der digitale Aktivitätstisch „CareTable“ oder der Projektor von „Qwiek“ zum Einsatz. Für mich ist hier auch eine gewisse Auswahl wichtig, weil die Bewohner*innen, auch im Zusammenhang mit verschiedenen Krankheitsbildern, ganz unterschiedlich auf die Angebote reagieren. Zur Auswahl und Anwendung geeigneter digitaler Techniken müssen Pflegende geschult werden und digitale Kompetenzen erwerben.

Wenn wir den Blick einmal in die Zukunft richten. Wie würden Sie sich ein digitalisiertes Arbeitsumfeld in der Pflege idealerweise vorstellen?

Samantha Schneider:

Sehr hilfreich in der Vorbereitung einer ambulanten Tour wäre es, wenn anhand der geplanten Leistungen eine Übersicht erstellt werden würde, welche Materialien wie z. B. steriles Wundmaterial oder Hilfsmittel wie ein Haarwaschbecken, an dem Tag benötigt werden.

Sollte ich mich auf der Tour mal verspäten, wäre eine Möglichkeit der unkomplizierten Kontaktaufnahme mit Patient*innen über das Tablet sehr entlastend. Hier könnte beispielsweise eine vorgefertigte Nachricht („die Pflegekraft verspätet sich um 30 Minuten“) gesendet werden.

Auch die Kommunikation mit Kolleg*innen und weiteren Akteuren aus dem Gesundheits- und Pflegewesen muss möglichst reibungslos funktionieren. Ich bin gespannt auf die Einführung des TI-Messengers, mit dem es möglich sein wird, sektorenübergreifend gesicherte Chatnachrichten zu versenden.

Auch im Bereich der Prozesse im Zusammenhang mit dem Medikamentenmanagement sehe ich noch großes Potenzial. Sinnvoll wäre ein System, welches die Packungsgrößen und Anzahl der einzunehmenden Medikamente überwacht und bei Bedarf einen automatischen Bestell- und Lieferprozess auslöst. Idealerweise werden dabei auch Urlaubszeiten von ärztlichen Praxen berücksichtigt und digitale Übermittlungswege für die Rezepte und Verordnungen genutzt, um unnötige Fahr- und Telefonzeiten zu vermeiden. 

Franjo Božić:

Vor dem Hintergrund, dass es in vielen Einrichtungen noch kein WLAN gibt, wünsche ich mir zunächst die flächendeckende Umsetzung einer verlässlichen und leistungsstarken IT-Infrastruktur in der Pflegelandschaft. Dadurch eröffnen sich in der Folge zahlreiche Möglichkeiten zur Unterstützung im pflegerischen Versorgungsalltag.

Denn dieser kann schnell sehr hektisch werden und oft müssen mehrere Dinge gleichzeitig erledigt werden. Im Idealfall hätte ich bei der Erfassung von wichtigen Vitalzeichen wie dem Blutzucker eine zusätzliche digitale Unterstützung bei der Erkennung von kritischen Abweichungen. Zudem würde die automatische Benachrichtigung durch Pflegedokumentationssysteme bei Unregelmäßigkeiten in Ernährungs- und Trinkprotokollen zusätzliche Sicherheit bieten.

Darüber hinaus ist der Zugang zu wesentlichen versorgungsrelevanten Informationen für mich als Pflegefachkraft entscheidend für eine gute Pflegequalität. Ein digitalisiertes Arbeitsumfeld sollte mir ermöglichen, zentral auf Informationen der verschiedenen an der Versorgung beteiligten Akteure wie Ärzt*innen, Pflegenden, Angehörigen und Betreuer*innen zuzugreifen.

PflegeDigital@BW:
Herzlichen Dank für das interessante Gespräch.